«Che confusiun!»

«Che confusiun!»

Weltwoche Nr. 31/32.15

 

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Ich konnte links und rechts noch nie richtig auseinanderhalten. Marx und Bakunin fand ich einsame Spitze, aber auch Hölderlin und Eddy Merckx hatten in meiner Normalität Platz. Jugenderinnerungen von Romana Ganzoni und Yves Noyau (Illustration)

 

Wenn ich wissen muss, wo rechts ist, simuliere ich einen Handschlag, murmle «Allegra» oder «Grüezi», eine Angewohnheit aus Kinder tagen. Die rechte Hand ist meine grüssende Kinderhand. Sie weiss, was zu tun ist. Wenn ich wissen muss, wo links ist, könnte ich den Handschlag simulieren und im Ausschlussverfahren die linke Hand ermitteln. Ich aber schaue auf beide Hände. Auf der einen Hand ist ein Tintenklecks, der sagt: «Ich bin links.» Ihn verdanke ich Reto, der vor 35 Jahren einen roten Pelikan-Füller nach mir warf und den Handrücken mit einem kleinen Tolggen tätowierte, wie um die Schreibhand zu markieren.

 

Ich aber schrieb mit der rechten Hand. Deshalb ist die linke Hand meine paradoxe Sudelhand aus der Pubertät. Seit es Rechner gibt, schreibt sie zusammen mit der Kinderhand. Sie einigen sich gerade auf diesen Text. Sie einigen sich darauf, mit den Bergen anzufangen, die mich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens umgaben. Sie waren gross, so gross, dass links und rechts keine Rolle spielten.

 

Wenn man im Unterengadin flussabwärts schaut, sind die einen Berge links, die anderen rechts. Wenn man flussaufwärts schaut, ist es umgekehrt. Ich bevorzugte keine Seite, ich bevorzugte die Namen und die Formen der Berge, die Haus- und Schicksalsberge waren oder gewöhnliche Berge. Wenn ich nach oben schaute, sah ich den Himmel. Mit den Füssen stand ich auf afrikanischer Erde. Ich war immer, wenn ich da war, auch zugleich anderswo.

 

In der Primarschule, die Pünktlichkeit und Leistung forderte, plagte mich der fehlende Orientierungssinn beim Aufwachen oft bis zum Mittagessen. Der Vater nannte es: durchgehende Mondsucht. Dabei hatte ich nur drei, vier Mal nächtlich Reibkäse aus dem Kühlschrank genommen und auf dem Parkettboden in der Stube verteilt. Es war Sommer gewesen. Ich mochte mich nach dem schönen Eisplatz gesehnt haben und liess es schneien.

 

 

Nebst dem Sbrinz fehlte am Morgen jeweils der Kaffeerahm. Die Mutter fand die leere Flasche aus braunem Glas im Abfall unter Gurkenschalen und Kaffeesatz. Wir lachten. Heute gäbe es dafür eine Dreifachrüge: Aus Tieren gewonnene Fettgetränke sind schlecht für Moral und Gesundheit, Glas wird separat entsorgt, organisches Material muss kompostiert werden. Wobei, es gab bereits Naturschützer, aber die waren nicht rot, sondern konservativ. Grün waren Fischer und Jäger.

 

Im Unterland war Krieg
Ich schlafwandelte in Küche und Stube. Im Bett knetete ich die Federdecke an die Wand
und knotete die Stoffbeine der Pyjamahose zu. Hatte ich Albträume oder war ich kreativ? Was auch immer, die Links-rechts-Falle schlug wieder zu und kulminierte in der zentralen Frage: «Wo geht es am schnellsten zur Schule?» 

 

Die Frage war ein wenig leichter zu beantworten, wenn der Kopf beim Geschepper des
Weckers regulär auf dem Kissen lag. Obwohl immer benommen, wusste ich rascher: Auf
der Seite der linken Hand, an der ich damals mangels Tintenfleck ein Armband trug, waren Kleiderkasten und Tür, ergo musste ich da hin. Rechts war ein Fenster und fertig. Nichts, was ich jetzt brauchen konnte. Rechts führte die Strasse nach Österreich: Nauders, Innsbruck, Wien. Von Martina in Steigung und Bogen auch zu einem verdorrten Zipfel Italiens, wo es immerhin einen hübschen neapolitanischen
Grenzer gab, ein winziges Kerlchen, glutäugig und entschlossen, wohl auch  entschlossen genug, die Südtiroler zu plagen. Das war Vaterlandspflicht. Ich musste es ausblenden. Die Südtiroler waren meine Helden. Mein Vater erzählte, wie sie in ihrem Freiheitskampf Denkmäler in die Luft sprengten, im Gefängnis in Mailand gefoltert wurden, nach Hause kamen, nicht mehr redeten und nach wenigen Jahren starben. 

 

Lag der Kopf am Fussende, ging es plötzlich – che confusiun! – links nach Österreich, rechts aber, in Richtung Grusshand, zum angepeilten Kasten, zu Tür und Schule – sowie ins Oberengadin, nach Chiavenna und Napoli. Bog man vorher ab, bei Susch, führte der Flüelapass nach Davos, wo Deutsch gesprochen wurde, dann ging es durch das Prättigau ins Unterland. Dort gab es noch viel mehr Probleme mit rechts und links. Davon zeugte später, im Gymnasium, eine, die zu uns in die Klasse gekommen war. Ihre Eltern hatten sie aus dem Sumpf der Stadt gezogen und ins alpine Internat geschickt, das Einheimische extern besuchten: Marlies.

 

Marlies war drei Jahre älter. Sie stammte aus Zürich und hatte an Unruhen teilgenommen, die nicht im Schlaf gekommen waren. Sie hatte wegen der Unruhen zu wenig Sport getrieben und musste beim Kilometerlauf leiden wie ein Hund. Ich hatte bereits keinen unruhigen Schlaf mehr, als sie die Unruhe, nämlich sich, von Zürich zu uns brachte. Sie sagte, das liege daran, dass eine Freundin der Freundin der Freundin bei den Unruhen, die uns nie plastisch geworden waren, ein Gummigeschoss von der «Schmier» ins Auge bekommen hatte.

 

«Schmier», das Wort hatte ich bis dahin noch nie gehört. Im Fernsehen sagten sie
«Bullen» oder «Polente», nicht Polizei. Wir sagten zu Hause höchstens «Zolipist».
Schimpfnamen für die Polizei gab es nicht. Die Polizisten waren namentlich bekannt.
Man hätte vielleicht «blöder Herr Rauch» sagen können. Aber da er nicht blöd war, hätte das wenig Sinn gemacht.

 

Die Polizei in Zürich schien aus ganz anderem Schrot und Korn zu sein, namenlose
Schläger, die Jugendliche ermorden wollten. Wir glaubten Marlies. Im Unterland war
Krieg. Wir wurden nur ab und zu abgeschwartet. Der Lehrer war der Chef. Wenn er reinkam, standen wir auf. Der Rektor der Schule trat auf meine Füsse, wenn ich Turnschuhe trug, auch Kaugummi war verboten. Der Walkman wurde konfi sziert. Am Skitag froren sich die Schüler die Ohren ab. Es war nicht erlaubt gewesen, sich bei minus zwanzig Grad Celsius ins Restaurant zu den Lehrern zu setzen. Die Ohren glichen bald herbstlichen Blättern, der Schmuck daran wirkte deplatziert. Am Schwarzen Brett hiess es, was wir erlebt hätten, diene der Abhärtung. Ich merkte nichts von der Abhärtung, aber vielleicht kommen Abhärtungen ja schleichend, wie die Gesundheit nach der Schlägerei oder gute Gewohnheiten.

 

Lacoste-Hemden in Kükengelb
Um sich zu beruhigen, rauchte Marlies viel Haschisch und kommandierte alle herum.
Wir hatten trotzdem Mitleid. Was für ein Scheissleben sie gehabt haben musste, bevor
sie endlich in den Bergen Rettung erfuhr. Natur und saubere Luft heilten einfach jeden.
Ich rauchte nie Haschisch, auch nicht aus Mitleid oder Solidarität, ich war Jahrgang 1967.
Nur die bis Jahrgang 1964 fanden Haschisch, gross maschige Pullover aus Alpaka und runde Brillen cool. Wir trugen Lacoste-Hemden in Kükengelb, Himmelblau und Rosa, ClosedJeans mit einem Stoffgürtel, knielange Burberry-Socken, Timberlands, wir träumten von einem Golf GTI, schwarz, mit goldenem John-Player-Special-Kleber auf der Heckscheibe, und wir gingen mit unsern Eltern am Sonntag auf den Vitaparcours.

Mir gefiel der Klang des Wortes «Haschisch». Ich sagte das Wort gerne vor mich hin bei der Station mit den Liegestützen, «Ha» in die Anspannung, «Schisch» in die Entspannung. Ich färbte mein Haar dazu hennarot, wie die Zürcherin, was zu meinem orangen Deux Chevaux passte, den ich Ende Mittelschule hatte, um das Rennvelo zu transportieren.

Marlies war die erste Linke, die ich von nahem erlebte. Sie hätte korrigiert: «LinksAutonome». Zu links war mir bisher vor allem mein Nachbar eingefallen, ein Linkshänder, der pädagogisch motivierte Ohrfeigen kassierte, bis das Trommelfell platzte. Bei uns gab es entweder kein linkes Konzept oder keinerlei Bewusstsein dafür, es gab nur die FDP und vier, fünf Alternative, alle namentlich bekannt, wie die Polizei. Sie waren Teil der Community, genau wie die zwei blonden Popper an der Schule, die dauernd die Stirnfransen in ihre Föhnfrisuren bliesen.

«Alternativ» hiess damals vor allem stilistisch anders, nämlich falsch gewickelt. Wenig
Coiffeurbesuche, eine Abneigung gegen Deo und Stöckelschuhe, eine Art Wehrhaftigkeit,
die ich nicht einordnen konnte, Vorliebe für Drogen und Dienst auf der Alp, aber auch, und das irritierte mich, für die Kunst. Denn das hiess nichts anderes, als dass ich, trotz Deo und Stöckelschuhen, trotz Lacoste-Shirt, wohl ein bisschen alternativ sein musste. Ich interessierte mich leidenschaftlich für die Kunst. Ich malte, sang und schrieb. Schreiben war schon früh eine Obsession, über die ich nicht nachdenken wollte. Beim Nachdenken fühlte ich mich zwittrig, und das war nichts für mich.

Wir trieben Sport und fanden uns normal. Als Normale fand ich deshalb den Marx und
den Bakunin einsame Spitze, ihre Texte las ich mit Begeisterung. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass die Brüder links stehen. Denn die hatten in meiner Normalität genauso Platz wie Hölderlin und Eddy Merckx, von dem ich wusste, dass er am Giro d’Italia 1969 kein Doping genommen hatte. Die Schweine hatten ihn reingelegt. Er weinte seit Jahr und Tag auf dem Foto über meinem Bett, das unter dem Hinterglasbild von Jesus hing.

 

Punks haben keine Zeit zu essen
Merckx weinte, Jesus schaute halb skeptisch, halb verträumt. Er liebte seine Feinde und
wäre sicher gegen mein Sturmgewehr gewesen, das im Schlafzimmer neben dem Kleiderkasten stand. Marlies liebte ihre Feinde nicht, aber sie war auch dagegen. Gleichzeitig hätte Jesus, im Gegensatz zu Marlies, mit seinem ausgeprägten Sinn für Gemeinschaft verstanden, dass es unerlässlich war, mit Flurin zum Schützenstand zu fahren. Jeden Samstag nach dem Mittagessen parkierte er den roten Traktor seiner Mutter vor unserem Haus und lud mich zu den alten Freunden aus der Dorfschule,
die schon lachend auf der Ladefl äche sassen.

Schiessen war grandios und für mich fast gratis, weil ich das Gewehr nicht putzen
musste. Es gab sofortiges Verständnis für meine armen langen Fingernägel, die das
Gewehrfett aufsaugen würden und futsch wären. Meine alten Freunde waren echte
Freunde, Menschen, die das Unabänderliche annehmen. Einer von ihnen nahm mir deshalb jeden Samstag galant das Gewehr aus der Hand, was als mein persönliches Urerlebnis im Geschlechterkampf gelten durfte: Es gab ihn nicht.

Nach der Links-Autonomen aus Zürich kam der Punk. Sie hiess Lou. Lou war aus Luzern.
Sie zwängte sich in diese hautengen Hosen, die auch heute die besten Mädchenfi guren verschandeln. Lou sah toll aus. Lou war ein Star, der auf der Strasse gelebt und mit elf Jahren begeistert Sex gehabt hatte. Sie war spindeldürr. Punks haben keine Zeit zu essen, sagte sie. Ihr Haar hatte sie seitlich abrasiert, mittig stand ein diskreter Kamm, vorne hing ein Büschel nonchalant im Spitz zwischen ihren braunen Augen, zwei rotzfreche, warme Bittermandeln, hellbraun, wenn sie lachte. Wenn sie lachte, sah man ihre Schaufeln, die übereinanderlagen.

 

Sie lachte auch, als sie ihre abgeschnittenen Schamhaare mit irgendwelchen Drogen in ein Trauercouvert rieseln liess, um es ihrem Freund nach Paris zu schicken. Ein Schwarzer. Sie könne nur schwarze Männer lieben, sagte sie. Zwei Tage später war sie dem Couvert hinterhergereist. Lou war um fünf Uhr in der Früh die vereiste Strasse zum Bahnhof runter geflüchtet. Man zog mich dafür zur Rechenschaft. Der Klassenlehrer behauptete, ich hätte ihr den Schlitten beschafft. Ich wünschte, ich hätte es getan, obwohl ich wünschte, sie wäre noch da.

Man liess mich stundenlang nachsitzen, so lange, bis ich gestehen würde, aber ich gestand nicht. Ich schrieb Gedichte, dann ging ich nach Hause, und ihre Eltern schalteten Interpol ein. Ohne Erfolg. Lou blieb verschwunden. Sie war in Paris und hatte dauernd Sex, während ich las, Liegestütze machte, auf Abenteuer hoffte und gelegentlich daran dachte, was sie mir gesagt hatte: «Schau nicht nach rechts oder links, mach einfach!»